Ferenc Glatz über den „100jährigen Krieg”

Montag, 11. November 2013
Der Historiker Ferenc Glatz hielt einen Vortrag mit dem Titel Europas großer Krieg und die Geburt einer neuen Weltordnung im Rahmen der anlässlich des Zentenariums des Ersten Weltkrieges von dem Haus des Terrors Museum und dem XX. Jahrhundert Institut organisierten, zweitägigen internationalen Konferenz. Professor Glatz legte in seiner Ausführung die Entfaltung des historischen Prozesses dar, der als die „neue Weltordnung“ bezeichnet wird, wobei er persönlich auf den Verlauf der Geschichte in diesem Zeitraum bezogen eher den Ausdruck „100jähriger Krieg“ verwendet. Er führte konkrete historische Beispiele aus Ostmitteleuropa, dem Karpatenbecken und Ungarn an, um den Kontinuumcharakter des Krieges zu belegen, gleichzeitig rief er auf Grund seiner Schlussfolgerungen, die er mittels seiner Betrachtungsweise dieser 100 Jahre als Entität entwickelt hat, zur geschichtswissenschaftlichen Diskussion auf über die Neubewertung des periodischen Ablaufs und der einzelnen Ereignisse dieses Zeitraums.
Die anlehnend an das Zentenarium des Kriegsausbruches organisierte, für sechs Jahre geplante, internationale Diskussionsreihe bietet nach Meinung von Professor Glatz einen guten Anlass dafür, dass Historiker und mitteleuropäische Intellektuelle über diese Periode nicht nur als eine Leidensgeschichte schreiben. Vielmehr sollten ihre Fragestellungen lauten: Auf welcher Seite, zur welchen Zeit, aus welchem Grund und welche Rolle hatten die leitenden Intellektuelle und Politiker der kleinen Nationen der Region zwischen 1914 und 2013 im Spiel der Großmächte gespielt? (Zum Programm der Konferenz)

Eine der von Professor Glatz formulierten Thesen lautet: Im Anschluss an Europas „großem Krieg” begann die Herausbildung einer „neuen Weltordnung”, somit eine geregelte Form der „Weltregierung”. In einer Broschüre aus dem Jahr 1918 begann der britische Premierminister, Lloyd George, seine übergreifende historische Ausführung über die „neue Weltordnung”, mitunter ebenfalls über eine Weltföderation, -parlament, -gerichtshof und -polizei, mit dem Leitbild von V. I. Lenin über die Weltrevolution auf Klassenbasis. Aus der Zeit der 1960er Jahre hob Professor Glatz aus der Ideen- und Argumenten-Welt der in Europa (Pompidou- bzw. Erhardt-Kommission), in den USA (Kennedy-Kommission, Hudson Institut) und die innerhalb den Vereinigten Nationen aufgestellten und der Schaffung einer Weltordnung verbundenen Komitees sowie der über die Zukunft nachdenkenden Sozialwissenschaftler (Herbert Kahn, Francis Fukuyama, Samuel P. Huntington, Mihály Simai) hervor, dass die Ansätze der Idee einer Weltregierung, wie sie früher oder später in der globalisierten Welt herausbilden wird, auf den Ersten Weltkrieg zurückführen lassen. Der Grund, warum er für den ab 1914 andauernden Zeitraum die Bezeichnung „100jähriger Krieg” verwendet, ist, dass die Ursachen des Kriegsausbruchs – die Herausbildung der Nationalstaaten in Europa und die Kriege zur Vorherrschaft über die außerhalb von Europa liegenden Gebiete – nach 1918 unverändert bestehen blieben. Nach Meinung von Glatz sollte der Zeitraum in vier Perioden eingeteilt werden: die erste Periode (1914–1919) folgte dem Ziel der Territorialgewinnung und dem Abstecken der Einflusszonen. Infolge des anschließenden Friedenssystems von Versailles aus den Jahren 1919–1920 – was er persönlich als einen Waffenstillstand auffasst – wurden die drei supranationalen Reiche, die Österreichisch-Ungarische Monarchie, Russland, das Osmanische Reich – in Nationalstaaten unterteilt. In der zweiten, „überhitzten” Periode (1939–1945) des „großen Krieges”war dieKorrektion des Versailler Nationalstaatensystems und der Grenzen in den Vordergrund gerückt, bis dann versucht wurde die nationalsozialistischen Pläne eines „neuen Europa” zu verwirklichen. (In diesem Zeitraum erfolgt – so Glatz – die dimensionale Ausweitung des Krieges zu einem Weltkrieg, wobei neben der Territorialgewinnung als Zielsetzung, die Ereignisse ebenfalls ideologische Züge annehmen und es zum Zusammenprall von nationalsozialistischen, kommunistischen und liberalen Ideologien kommt.) Die dritte Periode, der Kalte Krieg (1947–1989) ist von Anfang an ideologisch geprägt – der Zusammenprall vom liberalen Kapitalismus und vom Kommunismus – bis dann am Ende der Kriegsschauplatz eine planetare Ausdehnung annimmt. In der vierten Periode (1990-2013) – in der, so Glatz, es an mehreren Orten (der Balkan, im Nahen Osten) erneut zu bewaffneten Konflikten mit der vorherrschenden Zielsetzung der Territorialgewinnung kommt – erfolgt ab 1991 die weitere Zerlegung und Auflösung des „Friedenssystems” von 1919-1920.